Auswahl und Gewichtung politischer Themen und Entscheidungsoptionen
Der Parlamentarische Sachbeirat soll in Entscheidungsangelegenheiten keine eigenen Voten abgeben. Eine seiner wichtigsten Aufgaben besteht vielmehr darin, den Raum der gesellschaftlichen Willensbildung strukturieren zu helfen und transparenter machen. Was möchte die Gesellschaft bzw. wie wichtig sind ihr bestimmte Ziele? Was ist notwendig, was ist weniger wichtig? Welche Argumente sprechen für oder gegen eine Entscheidung?
In einem eher unspezifischen Sinn sind diese Zielsetzungen bereits Teil des Wahlprozesses: Wähler wählen diejenige Partei die mit den eigenen Vorstellungen vermeintlich am besten übereinstimmt.
Regelmäßige unabhängige Erhebung von Meinungs- bzw. Stimmungsbildern
Bei spezielleren bzw. gerade aktuellen Themen wird seitens verschiedener Akteure versucht, Meinungen anderweitig zu Ausdruck zu bringen: Es finden öffentliche Demonstrationen zu bestimmten Themen statt, einschlägige Berichterstattungen werden in diversen Medien veröffentlicht, soziale Medien bieten Plattformen für Diskussionen und Kampagnen und durch Meinungsumfragen werden mehr oder weniger repräsentative Stimmungsbilder in der Bevölkerung erhoben.
Das Problem bei diesen Verfahren: Sie werden durch Interessengruppen initiiert und sind daher durchweg tendenziös. Das bedeutet nicht, dass sie zwangsläufig falsch sind, aber man kann umgekehrt auch nicht davon ausgehen, dass dadurch ein neutrales Meinungsbild der Bevölkerung repräsentiert wird. Selbst bei Beauftragung neutraler Umfrageinstitute besteht stets die latente Gefahr, dass eher Ergebnisse im Sinne des Auftraggebers ermittelt oder dass unerwünschte Ergebnisse später schneller ignoriert werden.
Aus diesem Grund sollte die regelmäßige und unabhängige Erhebung von Meinungsbildern zu Fragen, die das gesamte Land bzw. den Bund betreffen, ein erstes wichtiges Anliegen des Parlamentarischen Sachbeirats sein. Wie differenziert diese Meinungsbilder erhoben werden sollen und können muss derzeit noch offen bleiben.
Gesamtgesellschaftliche Wertekarte

Sehr grundsätzlich wäre es jedoch auch sinnvoll, in Anlehnung an die seit einigen Jahrzehnten bestehende sozialwissenschaftliche Forschung zum Wertewandel eine gesellschaftliche Wertekarte zu erstellen und regelmäßig zu aktualisieren. Als Beispiel hierfür sind die „Sustainable Development Goals (SDGs)“ des „Department of Economic and Social Affairs (DESA)“ der „Vereinten Nationen (UN)“ genannt, in denen 17 globale Entwicklungsziele formuliert werden. Eine daraus abgeleitete Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie mit zugehörigen Unterzielen und Indikatoren liegt bereits vor.
Auf vergleichbare Weise könnten gesellschaftliche bzw. politische Zielsetzungen formuliert und gewichtet werden. Undifferenzierte und vage Attributionen wie „rechts“ oder „links“ ließen sich so erweitern und präzisieren, um der Menge und Vielfalt der vorhandenen Themenfelder besser gerecht zu werden und zu einer differenzierteren gesellschaftlichen Diskussion beizutragen.
Risikomapping
Gewissermaßen in Umkehrung zur Darstellung gesellschaftlicher Werte lassen sich auch gesellschaftliche Risiken (aber auch Chancen) aufzeigen und gewichten. Menschliches Verhalten ist aus motivationspsychologischer Sicht von inneren Motiven und äußeren Anreizen abhängig. Während sich Werte und Ziele den inneren Motiven zuordnen lassen, zählen Risiken zu den äußeren Anreizen – hier als negative Anreize, die wir vermeiden möchten.
In der gesellschaftlichen und politischen Diskussion werden Risiken häufig medial inszeniert. Katastrophenmeldungen oder personifizierte Einzelfalldarstellungen erregen mehr Aufmerksamkeit und lassen sich somit besser verkaufen. Jedoch sollten nicht momentane mediale „Aufreger“, sondern sachlich beschriebene und anhand von gesellschaftlicher Relevanz und Auftretenswahrscheinlichkeit bewertete Themen Gegenstand der politischen Willensbildung sein.

Als Beispiel hierfür sei die „Global Risk Landscape“ aus „The Global Risks Report 2021“ des „Weltwirtschaftsforums (WEF)“ angeführt. Das Schaubild zeigt, wie sich Risiken anhand ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit und ihrer vermeintlichen Auswirkungen übersichtlich darstellen und gewichten lassen. Je wahrscheinlicher eine Risiko eingeschätzt wird (hier durch nichtrepräsentative weltweite Befragung ermittelt; N=841), desto weiter rechts wird es aufgetragen. Je schwerwiegender die Auswirkungen eines Risikos eingeschätzt werden, desto weiter oben erscheint es. Rechts oben befinden sich also diejenigen Themen, die von den Befragten als besonders bedrohlich und besonders wahrscheinlich eingeschätzt wurden. Da Gesellschaften oder politische Gremien besitzen keine unbegrenzten Verarbeitungskapazitäten besitzen, wäre es von großem Nutzen, die Aufmerksamkeit mit höherer Priorität diesen Themen zu widmen.
Allerdings bleibt zu beachten, dass die Qualität und der Anwendungsbereich von Risikoanalysen erheblich von der Art der Datengewinnung abhängt. Ferner können sich Risikoeinschätzungen, insbesondere bei seltenen Ereignissen, schnell ändern. Die Kategorie „Infektionskrankheiten“ („Infectious diseases“) wurde beisspielsweise in der Befragung 2020 noch wesentlich unwahrscheinlicher und weniger bedrohlich eingeschätzt. Es wäre also zu fordern, dass Risikoeinschätzungen regelmäßig erneuert und Verfahrensweise zur Datengewinnung gegebenenfalls optimiert werden.
Themenspezifische Sachinformationen
In der Regel ist die Auswahl politischer Entscheidungsthemen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten und teilweise auch öffentlich geführten Diskussion verbunden. Jede Seite führt ihre Argumente ins Feld und wirbt um öffentliche Aufmerksamkeit. Nicht selten werden dabei Informationen, unterschlagen oder – insbesondere bei Statistiken – falsch dargestellt oder interpretiert, um die eigene Meinung zu stützen. Jedes Ringen um die eigene Position bedeutet schließlich auch ein Ringen um Wählerstimmen und damit um die politische Existenz.
Allerdings sollte stets im Auge behalten werden, dass gesellschaftlic2he Ressourcen (Zeit, Geld, Personal etc.) begrenzt sind und man sich nicht um beliebig viele Themen mit gleicher Intensität widmen kann. Eine sorgfältige Beschränkung darauf, was wichtig und machbar ist, hilft, diese begrenzten Ressourcen auch optimal einzusetzen. Welcher Partei am Ende dadurch Wählerstimmen zukommen, sollte gesellschaftlich zweitrangig sein.
In diesem Sinne besteht eine wichtige Aufgabe des SBR darin, Hintergrundinformationen wie Sachargumente (z.B. Pro und Kontra) oder Statistiken sachlich korrekt und politisch neutral zur Verfügung zu stellen. Wo eindeutige Aussagen nicht möglich sind, könnten verschiedene Szenarien (z.B.: Minimum – Maximum – am Wahrscheinlichsten) gegenübergestellt werden.
AK 13.11.2022