Aspekte des Wahlverhaltens

Die motivationalen Ursachen menschlichen Handelns – und so auch des Wahlhandelns – sind in der Regel vielfältig und überlappend. Parteien werden gewählt, weil einem das Wahlprogramm gefällt, weil man die Parteivorsitzenden sympathisch findet, weil die Eltern diese Partei auch schon gewählt haben oder weil die Partei gerade in Mode ist. Meistens spielen auch mehrere Faktoren gleichzeitig eine Rolle.

Unterschiedliche Wahlhandlungen und deren Gründe

Wenn im Folgenden also versucht wird, Aspekte des Wahlverhaltens näher zu untersuchen, so kann es sich nur um eine grobe Klassifizierung einiger prinzipieller entscheidungslogischer Teilbereiche handeln. Die Frage lautet nicht, was genau aus welchen Gründen zu welchen Wahlhandlungen führt oder führte, sondern unter welchen Bedingungen welche typischen Verhaltensweisen zu erwarten sind.

Die dabei verwendete Klassifizierung ist einfach und grundsätzlich: Will jemand wählen oder interessiert ihn das Thema „Politik“ überhaupt nicht? Kann er wählen oder ist ihm der Zugang verwehrt bzw. weiß er nicht, wie er den Wahlvorgang korrekt durchführen kann? Und kennt er überhaupt eine Partei, die er wählen möchte? Diese drei Kategorien sind zusammen mit dem jeweils zu erwartenden Wahlverhalten in der folgenden Tabelle kombiniert und veranschaulicht:

Personelle und situative Bedingungen des Wahlverhaltens und deren Folgen: Wähler, Nichtwähler und Falschwähler
Klassifizierung des Wahlverhaltens

Gruppe 1:  Wer – aus welchen Gründen auch immer – kein politisches Interesse hat und also aus Absicht nicht wählen will, wird nicht zur Wahl erscheinen, egal, ob er könnte, oder nicht. Es ist ein Nichtwähler mangels Willen.

Gruppe 2:  Hat jemand Interesse, kann jedoch an der Wahl nicht teilnehmen oder weiß nicht, wie man den Stimmzettel richtig ausfüllt, so fällt er in die Gruppe der Nichtwähler bzw. Falschwähler mangels Können.

Man kann wohl annehmen, dass in der BRD durch die Möglichkeit zur Briefwahl oder durch entsprechende Handlungsanleitungen hinreichende Anstrengungen unternommen werden, die erfolgreiche Wahlteilnahme zu fördern und mögliche Defizite auf ein zu tolerierendes Mindestmaß zu beschränken. Damit verbundene potentielle Probleme stehen in keinem engeren Zusammenhang zur vorliegenden Thematik.

Gruppe 4:  Hat jemand Interesse, ist nicht verhindert und hat eine für sich hinreichend angemessene Wahloption, so wird er sein Wahlrecht ausüben. Dies ist der typische Fall eines Wählers.

Nicht-, Falsch- und Protestwähler aus Absicht

Gruppe 3 ist die hier interessierende Gruppe: Was macht jemand, der Interesse hat zu wählen und auch physisch etc. an der Wahl teilnehmen könnte, der allerdings mit keiner Partei soweit einverstanden ist, dass er ihr sein Votum geben möchte? Mindestens drei Handlungsalternativen sind nun denkbar:

Verschiedene Arten von freiwilligen und unfreiwilligen Nichtwählern
Differenzierung des Wahlverhaltens bei fehlenden positiven Wahloptionen

3a)  Nichtwähler: Zunächst kann er auf das Wahlrecht verzichten und wird damit zum Nichtwähler wider Willen.

3b)  Falschwähler: Er kann auch versuchen, seinen Unmut zum Ausdruck bringen, indem er einen entsprechenden Vermerk auf dem Stimmzettel macht oder einen leeren Stimmzettel abgibt. Im Gegensatz zu Nichtwählern aus Gruppe 2 ist er nun ein Falschwähler wider besseres Wissen. Dabei wird die Stimme allerdings unwirksam und geht als „ungültig“ in das Ergebnis ein.

3c)  Protestwähler: Eine dritte, dekonstruktive Wahloption besteht darin, eine Partei zu wählen, die zwar nicht den eigenen Präferenzen entspricht, die jedoch geeignet ist, den eigenen Unmut an der bestehenden Politik zum Ausdruck zu bringen bzw. zu deren Begrenzung oder Beendigung beizutragen.

Parteien bieten stets ein ganzes Programmpaket an, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass man als Wähler jeden Punkt dieses Pakets für optimal einschätzt, gering sein dürfte. Das heißt: Im Normalfall wird keine Partei den eigenen politischen Vorstellungen vollständig entsprechen. Vielmehr wählt man die Partei, die den eigenen Präferenzen am nächsten kommt (hierfür gibt es mittlerweile auch automatisierte Entscheidungshilfen), vorausgesetzt, sie tut dies in einem als insgesamt hinreichend empfundenen Ausmaß.

Protestwähler wählen ihre Partei allerdings aus grundsätzlich anderen Erwägungen heraus: Sie wählen eine (typischerweise in irgendeiner Hinsicht extreme) Partei nicht, weil sie dieser Partei zustimmen (dann wären sie normale Wähler der Gruppe 4), sondern um eine Gegenposition bzw. Protest gegenüber den restlichen Parteien zu artikulieren. Laut geltendem Wahlrecht wird der Protestwähler so zum normalen Wähler, da die Motive für seine Entscheidung bezüglich der Gültigkeit des Wahlergebnisses keine Rolle spielen. Aus Sicht der demokratischen Willensbildung wäre es aber natürlich wünschenswert, positive Voten und nicht Protest gegen andere Parteien parlamentarisch abzubilden.

Ablaufschema zum Zustandekommen unterschiedlichen Wahlverhaltens
Ablaufschema zum Wahlverhalten

Aus der Perspektive der hier vorgestellten Entscheidungslogik ist er ein Wähler wider der eigenen Überzeugung. Er präferiert die Partei seine Wahl nicht wirklich, sondern versucht, durch seine Entscheidung lediglich anderen Parteien – wenngleich möglicherweise in insgesamt guter Absicht – zu schaden.

Die drei beobachtbaren Verhaltensweisen „Wähler“, „Nichtwähler“ und „Falschwähler“ können also höchst unterschiedlich zustande gekommen sein. Ein Ablaufschema soll dies nochmal zusammenfassend veranschaulichen.

Zusätzliche Hinweise, wodurch Nicht- oder Protestwahl in einem konkreten Wahlgang verursacht wurden, lassen sich in der Regel durch statistische Analysen des Wählerverhaltens auf empirischer Basis erarbeiten. Diese sollen hier nicht weiter interessieren.

Vielmehr geht es im vorliegenden Zusammenhang um die Frage, welche Bedingungen geschaffen werden können, um Nichtwähler, Falschwähler oder Protestwähler der Gruppen 3a, 3b und 3c stärker bzw. konstruktiver in den Prozess der gesellschaftlichen Meinungsbildung einzubeziehen.

AK 13.11.2022