Die kategoriale Repräsentationslücke

Immer wieder wird in einschlägigen Diskussionen auf „Repräsentationslücken“ (bzw. „Repräsentationsdefizite“) im politischen System Deutschlands hingewiesen. Meistens ist damit gemeint, dass für bestimmte politische Strömungen kein parteipolitisches Äquivalent vorliegt. Dies kann der Fall sein, weil neue Strömungen entstanden sind, die durch die etablierte Parteien (noch) nicht abgedeckt werden, es kann aber auch sein, dass Parteien ihren politischen Standort verlagerten und dadurch bestimmte Personengruppen nicht mehr repräsentieren. Die politische Ortsbestimmung erfolgt dabei üblicherweise auf einer „Rechts-Links-Skala“ und die beschriebenen Trends verlaufen gegenläufig. Entweder verlagern politische Parteien ihren programmatischen Schwerpunkt in die Mitte und hinterlassen dadurch Lücken in den Randbereichen „rechts“ und “links“ oder es entstehen in den extremen Randbereichen neue Strömungen, für die es (noch) keine passende Partei gibt.

Die kategoriale Repräsentationslücke

Wenn in der vorliegenden Darstellung von einer „Repräsentationslücke“ die Rede ist, so ist damit ein anderer, kategorialer Sachverhalt gemeint. Unabhängig jeglicher parteipolitischer Positionierung ergibt sich alleine aus dem Wahlmodus dadurch eine Lücke, dass nur Parteienzustimmung abgebildet wird. Nicht-Zustimmung wird unterschlagen.

Eine etwas entfremdetes Beispiel mag dies verdeutlichen: Angenommen, man würde in der BRD eine repräsentative Befragung durchführen: „Welches Fahrzeug gefällt Ihnen, A, B oder C?“ 50 Prozent der Befragten würden mit Antwort A antworten und so würde man verkünden, „der Hälfte der Bundesbürger gefällt Fahrzeug A“. Korrekt? Auf den ersten Blick vielleicht ja, aber: Was wäre mit denjenigen, denen keines der genannte Fahrzeuge gefällt? Mit ziemlicher Sicherheit würde es nämlich auch Personen geben, die weder A noch B noch C gut finden. Richtigerweise müsste man also noch eine vierte (Residual-) Kategorie „keines der Genannten“ einfügen, was den Grad der im Ergebnis ermittelten Zustimmung für die verbleibenden drei Kategorien zwar vermutlich etwas verringert, was aber insgesamt zu einer realistischeren Schätzung verhilft.

Alternativ könnte man stattdessen natürlich auch lediglich die relative Zustimmung ermitteln, also „Welches Fahrzeug gefällt Ihnen am Besten, A, B oder C?“ In diesem Fall könnte man auf die Residualkategorie verzichten, hätte aber eine andere Aussage. „Der Hälfte der Bundesbürger gefällt A besser als B oder C“ müsste noch nicht einmal bedeuten, dass irgendjemandem Fahrzeug A gefällt, es könnte schlicht und ergreifend auch bedeuten, dass A lediglich am wenigsten intensiv abgelehnt wird – gewissermaßen „der Einäugige unter den Blinden“.

Bei politischen Wahlen sind dem Wähler derartige Entscheidungsprozesse üblicherweise nicht präsent. Vermutlich hat man die Partei, für die man stimmen möchte, bereits weit vor dem Wahltermin im Kopf und wird nicht weiter darüber reflektieren, ob man für sie stimmt, weil man sich durch sie vertreten fühlt, oder „nur“, weil man sie für besser hält als die anderen Parteien. Wie oben bereits angesprochen, können die subjektiven Beweggründe des Handelns höchst unterschiedlich sein und sind nicht immer bewusst.

Die Repräsentationslücke abbilden

Aus wahlrechtlicher Sicht gibt es hingegen sehr klare Anforderungen: Der Wähler vergibt mit seiner Stimme ein Mandat an einen Abgeordneten, der den Wähler (bzw. die Interessen des Volkes) später im Bundestag o.ä. vertritt. Eine Wählerstimme enthält daher immer auch eine absolute Zustimmung bzw. ein Votum ist mehr und verbindlicher als nur eine Einschätzung der Art „von allen verfügbaren Parteien/Personen wären mir diese am liebsten.“ Folglich kann auch das Nichtzustandekommen einer Zustimmung als Votum aufgefasst werden. Es bedeutet in diesem Fall „unter den zur Wahl stehenden Parteien ist keine, durch die ich mich bzw. das deutsche Volk vertreten lasse möchte“.

Diese kategoriale Repräsentationslücke hat, wie eingangs erwähnt, nichts mit politischen Inhalten zu tun, sondern beruht einzig auf einer fehlenden Kategorie in der Abbildung der gesellschaftspolitischen Willensbildung. Dabei gibt es zunächst auch Gründe, diese Lücke einfach zu ignorieren: Auch wenn der Grad an Zustimmung zu den gewählten Optionen tendenziell überschätzt wird, bleibt dies für das weitere Verfahren der Bestimmung der Abgeordnetensitze ohne Folgen, da der relative Anteile der Zustimmung gleich bleibt. Beispiel: Nach aktuellem Verfahren erhält Partei A 60% der Stimmen, Partei B 30%. Partei A hat also doppelt so viel Zustimmung wie B. In einem revidierten Verfahren stellt sich heraus, dass 50% der Befragten alle Parteien ablehnen. Partei A hat nun nur noch 30% der Stimmen, Partei B 15%. Allerdings hat auch jetzt Partei A doppelt so viel Zustimmung wie Partei B. Eine nachfolgende Berechnung der zugehörigen Mandate von A und B würde zum gleichen Ergebnis führen, da die „Ablehner“ nicht in die Mandatsverteilung eingehen. Dies würde sich erst ändern, wenn Ablehnung selbst parlamentarisch abgebildet bzw. wie eine Partei behandelt würde.

Aber auch so gibt es mindestens zwei Gründe, die Repräsentationslücke nicht zu ignorieren:

  1. Zunächst ist es ein grundsätzliches Gebot der demographischen und demokratischen Korrektheit, Parteienzustimmung numerisch so abzubilden, wie sie empirisch vorliegt.

  2. Wie die umfassende Forschung zum Thema „Politikverdrossenheit“ zeigt, kann Nicht-Zustimmung zu Parteien auch relevante Informationen zur Qualität der politischen Repräsentation beinhalten. Vertritt eine Partei oder Koalition beispielsweise tatsächliche Mehrheitsmeinungen, oder lediglich die Mehrheit derjenigen, die sich überhaupt für eine der aufgestellten Partei entscheiden konnten?

AK 13.11.2022