Die Pseudopartei zur Repräsentation der Sachlichkeit

Eingangs dieser Betrachtungen wurde geschildert, dass in den letzten Jahren nicht wenige Wähler vor einem Dilemma standen: Sollte man einer Partei eine Stimme geben, obwohl man mit der Arbeit aller Parteien unzufrieden war? Oder sollte man der Wahl fernbleiben und damit das ungeliebte Geschehen implizit unterstützen? Vereinzelt gab es Aufrufe zur Wahlzurückhaltung mit dem Hinweis, durch eine geringe Wahlbeteiligung Kritik am status quo der parteipolitischen Staatsführung ausdrücken zu können. Von anderer Seite wurde argumentiert, wer politisch mitgestalten wolle, der müsse auch zur Wahlurne schreiten.

Bezüglich der Repräsentation der Wählermeinung also eine nicht wirklich zufriedenstellende Situation: Politisch motivierte Nichtwähler lagen untrennbar in einem Topf mit nicht-motivierten bzw. verhinderten Nichtwählern. Wie lässt sich hier etwas mehr parlamentarische bzw. repräsentative Transparenz herstellen? Oder mit anderen Worten: Wie kann man diejenigen, die politisch motiviert nicht zur Wahl gehen (oder die aus Protest eine eigentlich ungeliebte Alternative wählen) sichtbar machen?

Ein fiktiver Stimmzettel für eine Bundestagswahl

1.) Von einem reinen Repräsentationsaspekt ausgehend, wäre zunächst zu fordern, dass ihre Stimmen im Wahlergebnis explizit sichtbar und gegebenenfalls im Bundestag repräsentiert werden. Im einfachsten Fall könnte hierzu auf dem Stimmzettel die zusätzliche Wahloption „Stimme für keine der Parteien“ angeboten werden. Dieses politische Votum könnte dann verwendet werden, um die Ergebnisse und Sitzverteilungen entsprechen zu korrigieren. Inwieweit eine solche Vorgehensweise verfassungs- bzw. wahlrechtlich zulässig und plausibel wäre, soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Mit ziemlicher Sicherheit würde es aber lange dauern, bis sich die gewählten Volksvertreter auf eine solche Maßnahme einigen könnten.

2.) Einfacher und wirkungsvoller könnte die Repräsentationslücke durch eine eigens hierfür gegründete Partei – beispielsweise „Nichtwählervertretung“ – aufgezeigt werden. Statt die Nichtzustimmung auf dem Stimmzettel zu vermerken und in die Wahlstatistik einfließen zu lassen,stünde nun eine eigens hierfür vorgesehene Partei zur Verfügung. Die Mandatsträger dieser Partei wären in den Entscheidungsgremien zwar anwesend, würden sich jedoch passiv verhalten und am politischen Handeln nicht beteiligen. Ihre Funktion bestünde darin, die Wählermeinung „Ich stimmpolitik mit verstande den etablierten Parteien nicht zu und möchte dies Kund tun“ zu repräsentieren.

Natürlich wäre dies im Endeffekt keine wirklich überzeugende Lösung. Nach einem anfänglichen Achtungserfolg würde schnell deutlich werden, dass es reichlich unökonomisch ist, eine zweistellige Anzahl von Abgeordneten dafür zu bezahlen, in Plenarsitzungen schweigend herumzusitzen.

Dennoch ist es wert, sich die potentiellen Vorteile einer Nichtwählervertretung – sei es als statistische Auswerteoption oder qua Partei – vor Augen zu halten:

Bundestag Sitzverteilung mit einer fiktiven „Nichtwählervertretung“
  • Nichtwähler der Gruppe 3 könnten sich angemessen artikulieren und würden aus der Anonymität der gesamten Nichtwählerschaft herausgehoben.

  • Die Wahlbeteiligung würde dadurch vermutlich etwas steigen, das Wahlergebnis würde vorherrschende Meinungen besser repräsentieren.

  • Protestparteien bzw. extremistische Parteien, die von der bloßen Unzufriedenheit am Bestehenden leben, würden von einer Quelle des ungerechtfertigten Stimmenzulaufs abgeschnitten.

  • Diskussionen zur Befindlichkeit der gesellschaftlichen Akzeptanz politischen Handeln (Stichwort „Politikverdrossenheit“) würden verfeinert werden, politische Parteien könnten sich der Wählermeinung besser anpassen.

  • Gleichzeitig entstehen nun für Parteien Anreize, sich dieser Wählermeinung zu nähern. Unabhängig vom relativen Stimmanteil einer Partei wird nun nämlich auch die absolute Zustimmung (bzw. deren Ablehnung) sichtbar gemacht.

  • Dabei entstehen ferner Anreize, miteinander und nicht nur gegeneinander zu arbeiten. Das Wahlergebnis ist nun kein reines Nullsummenspiel mehr, in dem die Gewinne des einen zwangsläufig zu Lasten der anderen gehen. In begrenztem Umfang politik mit verstandkönnen nun auch gemeinsame Gewinne (zu Lasten der „Nichtwählervertretung“) erarbeitet werden.

Erfolgreiches politisches Agieren der Gesamtheit aller Parteien – und damit auch der „Nichtwählervertretung“ – drückt sich nun darin aus, dass letztere möglichst wenig Stimmen erhält. Gleiches gilt auch in umgekehrte Richtung. Ein aus Wählersicht unbefriedigendes Agieren der Parteiengemeinschaft zeigt sich durch hohe Stimmanteile der „Nichtwählervertretung“. Neben der Zustimmung zur Arbeit einzelner Parteien liegt nun zusätzlich ein Kriterium der Zustimmung zur Parteiarbeit insgesamt vor.

Wie bereits erwähnt ist der Preis für diese Errungenschaften bislang allerdings unverhältnismäßig hoch. Unter den geschilderten Umständen würde eine große Zahl von Sitzen praktisch ungenutzt bleiben, nur um den Grad der Ablehnung der parlamentarischen Arbeit zu dokumentieren. Da dieser Grad jedoch einige Zeit nach Wahlende hinreichend bekannt und deutlich ist, wichtige personelle Ressourcen zur politischen Debatte jedoch über die gesamte Legislaturperiode hinweg entfielen, wäre der Ansatz auf Dauer wohl kaum zu rechtfertigen.

Die Frage muss also nunmehr lauten: Wie kann man Wähler, die sich durch keine der verfügbaren Parteien angemessen vertreten sehen, so repräsentieren, dass dennoch eine konstruktive Mitarbeit an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen möglich wird?

Hierfür notwendig wäre eine Art „Nicht-Partei“, für die eine aktive Beteiligung an Abstimmungen nach wie vor ausgeschlossen bleibt. Ansonsten würde es sich nämlich wieder um eine Partei handeln und damit dem Anspruch einer Nichtwählervertretung nicht gerecht werden.

Durch diese Nicht-Partei dürften auch keine Meinungen systematisch vertreten werden, die ein politisches Programm bzw. programmatische Ideale unterstützen (etwa im Sinne der populären Zuordnungen „rechts“ versus „links“, „liberal“ versus „konservativ“ etc.) und damit eine Verzerrung zugunsten einer der klassischen Parteien bewirken bzw. nahelegen. Argumente und Standpunkte sollten sich ausschließlich an der jeweiligen Entscheidungsangelegenheit orientieren und möglichst wertneutral behandelt werden.

Zwei Ansätze wären denkbar, diesen Forderungen gerecht zu werden. Der erste Ansatz besteht im Wesentlichen darin, sich auf die reich sachliche Darstellung von wertneutralen Fakten zu beschränken. Der zweite Ansatz verzichtet ebenfalls auf eine eigene Meinung und versucht stattdessen, die (themenspezifische) Meinung der Bevölkerung in Entscheidungssituationen zu tragen.

  1. Versachlichung durch spezifische, unabhängige Experten: Je nach Thema könnten zuständige Experten aus Universitäten oder sonstigen neutralen Forschungseinrichtungen in Diskussionen eipolitik mit verstandngebunden und in parlamentarische Debatten entsandt werden.
    Unvermeidbare und häufig unterschwellig wirksame politische Präferenzen – von denen sich natürlich auch Sachexperten nicht gänzlich befreien können – könnten pluralistisch aufgefangen werden. Hierbei bietet sich die Stratifizierung oder die Randomisierung an. Stratifizierung würde bedeuten, Abgeordnete so zusammenzustellen, dass deren anteiligen Präferenzen hinsichtlich einer Entscheidungssache den Präferenzen der Grundgesamtheit der Experten entspricht. Randomisierung – also die Zufallsauswahl aus einem Expertenpool – ist einfacher durchzuführen, kann aber eher zu zufälligen Verzerrungen führen, die sich jedoch über die Zeit hinweg ausgleichen.

  1. Demokratisierung durch themenspezifische Volksbefragungen: Was im direkten parlamentarischen Entscheidungsverfahren verfassungsrechtlich problematisch ist, dürfte in einem indirekten Verfahren – vermittelt durch eine Partei – durchaus möglich und sinnvoll machbar sein. Repräsentative Meinungsbilder könnten kurzfristig erhoben und in parlamentarische Diskussionen eingebunden werden. Auch hier wäre es von elementarer Bedeutung, auf Meinungsneutralität bzw. Repräsentativität zu achten. Statistik und Sozialwissenschaften bieten hierfür ein umfassendes Methodenrepertoire und eine Nicht-Partei könnte den Rahmen schaffen, Befragungsergebnisse unabhängig von eigenen politischen Zielsetzungen zu dokumentieren und zu artikulieren.

Dabei könnte sich die zunächst scheinbare Schwäche aus der fehlenden Stimmabgabe – und damit ihr Charakter als „Nicht-Partei“ – in einigen Bereichen als spezifische Stärke erweisen:

  • Die Nicht-Partei steht nicht unter dem Erfolgsdruck, durch ihre Tätigkeit möglichst viele Wählerstimmen produzieren zu müssen. Sie ist als „Residualpartei“ daraufhin konzipiert, denjenigen Wählern eine (möglichst temporäre) Heimat zu gehen, die sich durch die konventionellen Parteien nicht vertreten sehen. Sie wirbt nicht um (Nicht-)Wähler und folglich stellt ein hoher Stimmenanteil für sie auch keinen echten Anreiz dar.

  • In dieser Konstellation geringerer positiver und negativer Anreize – Wählerstimmen gewinnen oder verlieren zu können – ist es vergleichsweise einfach, sich eines populistischen Mainstreams zu enthalten und Diskussionsbeiträge anhand ihrer Sachlichkeit zu entfalten.

  • Schließlich wäre eine Partei, die per definitionem nicht abstimmt, auch weniger empfänglich für lobbyistische Manipulationsversuche. Ein bestimmtes Abstimmungsverhalten ist hier nicht zu erwerben und auf die Entsendung von Experten Einfluss zu nehmen, dürfte in einem offen konzipierten pluralistischen Auswahlverfahren aus externen Fachexperten kaum möglich sein.

AK 13.11.2022