Fakten und Werte

Bei Entscheidungen – individuellen als auch sozialen – geschehen typischerweise zwei Dinge gleichzeitig: Wir haben erstens bestimmte Fakten im Kopf, die uns auf irgendeine Weise sagen, was in der Welt vorgeht. Und wir haben zweitens zumindest eine grobe Vorstellung dessen, was wir in oder von dieser Welt wollen.

Wer im April vor die Tür tritt, wird vorher wahrscheinlich einen kurzen Blick nach draußen werfen, um zu sehen, wie das Wetter ist. Möglicherweise wird er dabei feststellen, dass es gerade regnet und stürmt und eine warme Jacke anziehen. Man will ja nicht frieren. Durch eigene Erfahrung oder durch das, was uns andere mitgeteilt haben wissen wir Einiges, was in dieser Welt geschieht und welche Konsequenzen diese Geschehnisse haben. Regen und Sturm im April haben die Konsequenz, dass man schnell friert und sich eventuell sogar erkältet. Winddichte und gut gefütterte Jacken wiederum schützen vor Kälte. Und da wir also weder frieren noch krank sein wollen, ziehen wir eine Jacke an, nachdem wir festgestellt haben, dass das Wetter entsprechend schlecht ist.

Faktische und ethische Entscheidungskomponenten

Der Sozialwissenschaftler Herbert Simon (1947) traf hierzu die Unterscheidung in faktische Komponenten, die den sachlichen Entscheidungsraum betreffen und ethische Komponenten (hier ohne weitere Differenzierung „Werte“ bzw. „Ziele“ oder „Motive“ genannt), die die eigene Motivlage bzw. die einer sozialen Gruppe betreffen. (Ähnlich hierzu benutzt man z.B. in der Rechtsprechung die Begriffe „Tatsachenaussagen“ und „Werturteile“)

1. Fakten

Fakten lassen sich  als Tatsachenaussagen über die beobachtbare Welt verstehen. Von frühesten Kindesbeinen an beobachten wir die Welt und versuchen zu verstehen, was darin passiert und in welchem Zusammenhang dies mit uns steht. Spätestens wenn wir uns über unsere Erfahrungen mit anderen austauschen, werden wir allerdings feststellen, dass diese nicht immer identisch sind. Ist es gesünder, eher Kohlehydrate zu essen oder eher Proteine und Fett? Kann man andere besser überzeugen, wenn man ihnen viel zuhört oder wenn man sie durch sprachlich eloquente Darstellungen beeindruckt?

Um ein sozial geteiltes und akzeptiertes Wissen zu ermöglichen, entwickelten sich Wissenschaften. Mittels wissenschaftlich-empirischer Methoden wird dabei über die „Richtigkeit“ von Tatsachenaussagen entschieden. (Per Konvention bestimmte Fakten – z.B. ein Kilometer besteht aus 1000 Metern – werden an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt.)

Tatsachenaussagen sind also entweder „wahr“ oder „falsch“. Allerdings werden diese Begriffe nach den Annahmen des logischen Positivismus wissenschaftstheoretisch anders gewertet als umgangssprachlich. Wissenschaftlich „wahr“ bedeutet „konnte bislang empirisch nicht widerlegt werden“ (Falsifikation). Während man umgangssprachlich mit „wahr“ eine zeitlich eher beständige oder vielleicht sogar unbegrenzt gültige Beurteilung verbindet, würde ein Wissenschaftler nicht lange zögern, aus „wahr“ ein „falsch“ oder zumindest „fraglich“ zu machen, sobald neue, überzeugende empirische Untersuchungen dies nahelegen.

Dies bedeutet: Egal, ob viele oder wenige Wissenschaftler einer Theorie bzw. einer Tatsachenaussage zustimmen, ihre Gültigkeit wird letztendlich unabhängig von Personen und ausschließlich gemäß dieser wissenschaftlichen Regeln bestimmt.

2. Werte

Ganz anders verhält es sich bei Werten: Was wir wollen oder nicht ist (zunächst) alleine unsere Entscheidung, bei der es kein „wahr“ oder „falsch“ gibt, sondern bestenfalls ein subjektives „gut“ oder „schlecht“. Man kann ein grünes Auto wollen oder ein blaues oder lieber ein Fahrrad – keine dieser Entscheidungen ist „wahr“ oder „falsch“.

Jemand, der beispielsweise im April auf die Straße gehen möchte und feststellt, dass es draußen regnet und stürmt, wird sich vielleicht gerade nicht vor Kälte schützen wollen, wenn er sich auf eine Expedition in kältere Regionen vorbereitet. Er hat vielleicht die (wahre oder falsche) Tatsachenaussage bzw. zumindest Hypothese im Kopf, dass durch häufige Gewöhnung die Anpassung an schlechtere Kältebedingungen verbessert werden kann und versucht, genau dies zu tun.

Bei sozialen Entscheidung kommt noch eine weitere Anforderung hinzu: Menschen mögen in der Regel nicht alle dasselbe und so bleibt zu klären, wie unter mehreren möglichen Entscheidungen, diejenige ausgewählt wird, die für alle verbindlich gelten soll. In Deutschland hat sich hierzu auf gesellschaftlicher Ebene die Methode des Mehrheitsbeschlusses etabliert. Im Gegensatz zur Prüfung von Tatsachenaussagen, die „wahr“ oder „falsch“ sein können, gilt also hier: gültig ist, was die Mehrheit beschließt. (Dies ist ungewöhnlicher als man zunächst vermuten könnte. In zwei anderen wichtigen Lebensbereichen „Familie“ und „Arbeit“ wird nämlich üblicherweise nicht oder nur teilweise per Mehrheitsbeschluss entschieden.)

Die Entscheidungsbrille

Die Entscheidungsbrille: Bei Entscheidungen spielen stets Fakten und Werte eine Rolle
Fakten und Werte: Die Entscheidungsbrille

An den genannten Beispielen wurde auch deutlich, dass diese Unterscheidung in Fakten und Werte sich meist nicht unmittelbar aus dem Alltagserleben erschließt. Ganz im Gegenteil sind die beiden Komponenten normalerweise miteinander vermischt und oft schwer voneinander zu trennen (s.a. das „Sein-Sollen-Problem“ bei David Hume) . Was wir tun wollen, ist z.B. auch davon abhängig, was wir glauben, erreichen zu können bzw. von unserer Vorstellung über die Beschaffenheit der Welt. Und oft genug halten wir Dinge deshalb für richtig, weil sie von vielen gesagt werden. Wie bei einer 3D-Brille wird unsere Sicht auf diese Welt gleichzeitig durch Fakten und Werte bestimmt uns erst beides zusammen ergibt unseren Gesamteindruck.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir beides nicht trennen können und vieles spricht dafür, sich immer wieder zu vergewissern, in welchem Anteil beides gerade vertreten ist: Ist das, was angestrebt werden soll, wirklich realistisch erreichbar? Sind Aussagen, die verbreitet werden, empirisch zutreffend oder „nur“ Mehrheitsmeinungen? Sind Fakten, die mitgeteilt werden, umfassend und richtig, oder stellen Sie nur eine selektive Auswahl dar, um eine bestimmte Zielsetzung argumentativ zu untermauern?

Literatur:

  • Simon, H. (1947). Administrative Behavior. A Study of Decision-Making Processes in Administrative Organization. New York: Macmillan.

AK 13.11.2022